Für mich lautet die einfache Formel, den Expressionismus zu definieren: Zerstörung der
Wirklichkeit, bzw. unserer Vorstellung davon.
Man muss zumindest zwei unterschiedliche Strömungen annehmen. Bei der einen entscheiden
sich Menschen, Künstler eben, die in einer, für sie unerträglichen Gesellschaftsordnung
leben, deren Normen und ethische Grundsätze den ihren, fundamental zuwider laufen, ganz
bewusst, den Kanon mit ihrer Kunst zu durchbrechen.
Frei nach der von Bertelsmann "Das neue Lexikon in 3 Bänden", Seite 454- 455, 2007,
gegebenen Definition heißt Expressionismus das Ablehnen der bloßen Nachbildung der
Wirklichkeit.
An die Stelle von Schönheit und Harmonie tritt die radikale Subjektivität des
Seelenlebens. Weiter wird eine formale Geschlossenheit und Verfestigung angestrebt.
Bei Malern kommt eine anormale Farbgebung und Veränderung der natürlichen Maßgebung,
zugunsten der emotionalen Gebärde hinzu, starke Linienbetonung, farblicher Kontrast
und Monumentalwirkung.
Bei der anderen Strömung und ich rechne mich dazu, entwickelt sich der expressionistische
Gedanke, infolge der Einwirkungen des persönlichen Umfelds, auf eine überaus sensible,
künstlerisch begabte, auch narzisstische, heranwachsende Persönlichkeit, die infolge von
Verletzungen und Brüchen seiner emotionalen Idealwelt dazu neigt, das harmonische
Idealbild zu zerstören. Die Gründe sind sehr eng gesteckt. So wird beispielsweise der
Vater zum Stein des Anstoßes durch die Auseinandersetzung des Pubertierenden mit
dem Stammhalter althergebrachter Ordnung, auch in Folge emotionaler und rhetorischer
Kastrierung, also Niederhaltung des aufbegehrenden Sprosses.
Dieser daraus resultierende Expressionismus ist ein natürlicher, auf Gefühlen und
deren Verletzungen basierender, der sich erst mit später einstellender Reife neue
intellektuelle Schlachtfelder sucht und suchen muss, um aus dem Schatten der
Subjektivität heraustreten zu können.
Somit war bei mir nicht die Ablehnung der bloßen Nachbildung vordergründig, sondern
sie ergab sich auf ganz natürliche Weise, infolge des Widerstandes gegen die Umstände.
Weiterhin jedoch kann ich mit der Definition, die behauptet, dass an die Stelle von
Schönheit und Harmonie radikale Subjektivität tritt, nur zum Teil mitgehen. Radikale
Subjektivität, Anpassungsunfähigkeit, Narzissmus sind fundamentale Bestandteile des
Expressionismus. Aber Schönheit und Harmonie sind deshalb keineswegs ausgeschlossen.
Im Gegenteil! Wer im Chaos lebt, sucht nach Harmonie, Ordnung, Schönheit und wer an
Gedichte von Benn denkt wie Der Dunkle, Das Ganze oder Melancholie, wird sich ob ihrer
Sprachmelodien, strengen Ordnungen, ja Symmetrien und Metaphernfeuerwerke, einer
omnipotenten Schönheit dieser deutschen Sprache nicht entziehen können.
Bei mir ist es genau so, wenn auch die Herangehensweisen an ein Gedicht sich von der
Benn grundlegend unterscheidet.
Für Benn waren es Worte, Begrifflichkeiten, von mir aus auch Künstlichkeiten, von
denen er sich zu so hinreißenden Gedichten inspirieren ließ.
Bei mir steht die Emotion an erster Stelle, ein gewisses Gefühl, ein Bild in der Seele,
denen sich Worte, Begrifflichkeiten und Formulierungen unter zu ordnen haben. Sie müssen
wie Noten ins Klang- und Gefühlsbild passen. Dazu strebe ich eine strenge Harmonie und
Form an, die es manchmal schier unmöglich machen, ein passendes Wort zu finden.
Das Gegenstück zum farblichen Kontrast expressionistischer Maler sind die sprachlichen
Brüche, denen zu folgen, Außenstehenden manchmal unmöglich ist. Und warum? Weil ihnen
geistige Brüche voran gingen.
Unerfahren mit dieser Art Rhetorik stürzte ich mich einmal in einen Prosatext von Benn.
Rönne. Ich fühlte mich geradezu erschlagen von der Metaphernflut und konnte mich des
Eindrucks einer gewissen Arroganz des Autors nicht erwehren, was sich später als richtig
herausstellte. Dennoch lag das meiste Unverständnis allein darin begründet, dass ich
einfach in dieser Sprachlichkeit noch ungeschult war. Nach mehrmaligem Lesen klärte sich
alles auf und machte mich zum Freund, ja Genießer solcher Texte.
Das wir Expressionisten auf Monumentalwirkung aus sind, steht außer Frage. Aus einem
einfachen Grund. Die Reaktion verläuft immer extremer als die Aktion. Will heißen, dass
ein Expressionist im eigentlichen Sinne immer unverhältnismäßig auf die an ihm verübten
Verfehlungen reagiert, reagieren muss. Zum einen weil er gehört werden will und zum
anderen, weil die, zum einen Teil menschliche und zum anderen Teil narzisstische Kränkung,
eine Überreaktion geradezu fordern.
Außerdem muss man sich vergegenwärtigen: Die Zeit der Kränkungen dauerte eine
abschätzbare Zeit lang und ist womöglich Jahrzehnte vorbei. Die Zeit der Abrechnung
jedoch dauert ein Leben lang und wird durch immer neue, jetzt am System fest gemachten
Unstimmigkeiten bereichert.